People Power - Tag 1
Wir hatten beschlossen, Freunde in Baguio zu besuchen, ein staubiger Trip in einem offenen Bus, sechs Stunden durch flaches, glutheißes Land, dann zwei Stunden auf einer Serpentinen-Piste bis auf 1500m hoch in die Berge. Wir waren kaum angekommen, hatten gerade zu Abend gegessen, da klingelt das Telefon. Durch die knisternde Leitung höre ich die aufgeregte Stimme meiner Schwägerin: "Revolution!" ...
Wir schalten auf Radio Veritas und hören June Keithley mit einem Bericht von der Pressekonferenz, in der General Fidel Ramos und Verteidigungsminister Juan Ponce Enrile mitteilen, daß sie Präsident Marcos nicht mehr unterstützen und ihn auffordern, abzutreten, damit die rechtmäßig gewählte Corazon Aquino die Präsidentschaft übernehmen kann. Die beiden haben sich mit ca. 200 Mann im Camp Aguinaldo (Sitz des Verteidigungsministeriums) und im Camp Crame (Hauptquartier der Polizei) verbarrikadiert und die Armee aufgefordert, sich der Rebellion anzuschließen.
Überstürzt packen wir unsere Taschen wieder zusammen, hetzen zum Busbahnhof und springen in den nächsten Bus zurück nach Manila. Unterwegs lauschen wir weiter Radio Veritas und hören den Appell von Jaime Cardinal Sin (Erzbischof von Manila), der die Bevölkerung aufruft, sich am Camp Aguinaldo zu versammeln, um den Rebellen moralische Unterstützung zu geben und sie mit Essen zu versorgen.
Wir erreichen Manila im Morgengrauen. In unserem Haus herrscht Aufregung, unter unseren Nachbarn sind einige Medizinstudenten, die sich gerade bereit machen, dem Ruf des Bischofs zu folgen. Sie tragen Rot-Kreuz-Westen und packen Rucksäcke voll mit Medikamenten, Salztabletten, Kohletabletten, Spritzen, Binden, sie hetzen durch die ganze Nachbarschaft und fordern Leute auf, alles herauszurücken, was sie im Medizin- und Kühlschrank haben.
Wir kapern einen Jeep und fahren zum Camp Aguinaldo. Von Radio Veritas kommt die Meldung, daß Armee-Einheiten am frühen Morgen den Sender zerstört haben, man arbeitet nur noch mit den Notaggregaten und wird in Kürze nicht mehr senden können. Damit ist Manila informationstechnisch vom Rest des Landes abgeschnitten.
Rebellen in Camp Aguinaldo foto: pa.eng |
Auf der Epifanio de los Santos Avenue (EDSA) finden wir bereits zehntausende von Menschen vor. Die Stimmung ist festlich, Familien mit Kind und Kegel haben Decken auf dem Asphalt ausgebreitet, Studentengruppen schwingen ihre Transparente, Rock- und Folksinger machen Musik, Nonnen und Hausfrauen verteilen Essen an die Soldaten, die auf den Mauern von Camp Aguinaldo sitzen ...
Diese Soldaten sind schwer bewaffnet, mit ultramoderner Ausrüstung. An ihren Ärmeln ist eine philippinische Flagge angeheftet, die auf dem Kopf steht, um ihre Gewehre sind gelbe Bänder gewickelt - sie gehören zu den Rebellen.
Auf dem großflächigen Gelände liegen auch noch Einheiten der Loyalistas. Sie sind unsicher, wie sie sich verhalten sollen. Einige klettern über die Mauern, binden gelbe Bänder an ihre Gewehre - sie werden von der Menschenmenge begeistert aufgenommen, lachen und weinen gemeinsam ... instant heroes!
Gegen Mittag hält Marcos eine Pressefonferenz und teilt mit, er habe die Lage völlig unter Kontrolle. Allgemeine Heiterkeit. Es wird langsam richtig heiss, und immer noch strömen die Massen heran. Ich klettere auf einen Bus, der mit fünf oder sechs weiteren als Panzersperre quer auf der Fahrbahn steht. Von dem zehnspurigen Highway und seinen Nebenstrassen ist nichts mehr zu sehen, Menschen, soweit das Auge reicht!
Am frühen Nachmittag entscheiden Ramos und Enrile, ihre Kräfte zu konsolidieren und gemeinsam in Camp Crame weiterzumachen. Ein Kontingent Soldaten verläßt Camp Aguinaldo, um einen Weg durch die Menschenmasse vorzubereiten. Kurz darauf verläßt Enrile das Camp und marschiert mit seinen Truppen zum ca. einen Kilometer entfernten Camp Crame. Zuerst äußerst angespannt und wachsam, entwickelt sich dieser kurze Marsch für die rebellischen Truppen zu einem regelrechten Triumphzug. Sie saugen die Zuneigung der Menge auf wie eine Droge, man sieht förmlich, wie die Zuversicht in ihnen wächst, mit der Realisierung, das Volk auf ihrer Seite zu haben.
Die Drohung foto: roger carpio |
Wenig später ändert sich plötzlich die Stimmung, die Menge wird ernst, betroffene Gesichter um uns herum. Radio Veritas berichtet von einer größeren Truppenbewegung Richtung Camp Aguinaldo. Die Menschen rücken zusammen, schieben sich den Truppen entgegen, bilden eine gigantische menschliche Barrikade. Die meisten sind auf die Knie gesunken und beten.
Kurz darauf erscheint der erste Panzer, gefolgt von einer langen Schlange Truppentransportern, mehr Panzer. Am Rande der Menschenmenge kommt die Kolonne zum Stillstand. Der kommandierende General, Artemio Tadiar, droht, das Feuer zu eröffnen, wenn die Blockade nicht aufgegeben wird. Die Menschenmenge rückt nur noch näher an die Kolonne, bietet Süßigkeiten und Zigaretten an, betet vor den Soldaten, fleht sie an, sich der Rebellion anzuschließen.
Unbewaffneter Widerstand foto: joe galvez |
Der Panzer startet durch, ruckelt vorwärts, versucht die Menschen auf die Seite zu zwingen, ohne Erfolg. Mit ihren nackten Armen stemmen sich Männer, Frauen und Kinder gegen den zuckenden Metall-Leib des Panzers, und ihre Tränen bewegen schließlich den General.
Abseits des Highways befindet sich ein riesiges leeres Grundstück, der Panzer durchbricht die Mauer und die ganze Kolonne rückt in dieses Grundstück ein, das sofort von zehntausenden von Menschen komplett umzingelt wird.
Rückzug der Truppen foto: pa.eng |
Die Soldaten errichten ein provisorisches Lager, sie bekommen Essen von den Nonnen, ein Priester baut einen kleinen Altar auf, lädt die Soldaten zum gemeinsamen Gebet ein. Kinder, junge Mädchen und junge Männer wandern umher und stecken den Soldaten Blumen zu. Straßenhändler errichten ihre Stände, verkaufen Nüsse, Zigaretten, Gebratenes ... Die Situation entspannt sich.
Abwarten foto: pa.eng |
Peace! foto: john chua |
Gebet foto: pete reyes |
Die erste Nacht foto: pa.eng |
Später am Abend: Radio Veritas hört endgültig auf zu senden. Wir versuchen, an den Rand der Menschenmenge zu kommen, Telefone zu erreichen, um herauszufinden, was in anderen Bezirken passiert. Überall stehen Menschenmengen der Armee gegenüber, getrennt durch eher symbolische Barrikaden aus Autos, gefällten Bäumen, improvisierten Sandsäcken. Alle sind verunsichert, mit der Dunkelheit kommt die Angst. In einigen Bezirken wird geschossen. Ohne Radio Veritas weiss niemand genau, was passiert, wilde Gerüchte verbreiten sich.
Eine lange Nacht voller Anspannung liegt vor uns.
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